Samstag, 12. Mai 2018

YOU WERE NEVER REALLY HERE (2017)
















A BEAUTIFUL DAY

Frankreich, USA 2017
Regie: Lynne Ramsay
DarstellerInnen: Joaquin Phoenix, Ekaterina Samsonov, Alessandra Nivola, Alex Manette, John Doman, Judith Roberts u.a.


Inhalt:
Ex-Soldat Joe, der mit seiner demenzkranken Mutter im gemeinsamen Haushalt lebt, erhält den Auftrag, die Tochter eines Senators aus einem Kinderbordell zu holen. Der Job entpuppt sich als weitaus gefährlicher als gedacht und markiert einen Wendepunkt im Leben Joes...


Joe (Phoenix). Sein Blick schweift oft ins Leere.


Joe mit der orientierungslosen Nina auf dem Weg zurück.


Das Rundherum
Ein denkwürdiger Kinobesuch an einem verregneten Feiertag


Wir schreiben den 10. Mai 2018, in Österreich Feiertag. Draußen ist es kühl und ungemütlich. Es regnet in Strömen.
Wir befinden uns an einem Ort, den wir normalerweise meiden, nämlich in einem Vergnügungstempel, der neben 8 Kino-Sälen und einem IMAX auch noch Bars, Gastronomiebetriebe und Spielautomaten beherbergt. Die 400 Parkplätze rund um dieses Event Center sind gut besetzt, das Publikum im Durchschnitt zwischen 18 und 25 Jahre alt. Wir stehen in einer großen Menschenmenge vor zwei Sälen, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft zu einem Asia Restaurant, einer Pizzeria sowie einer Shisha Bar und im selben Gang wie die Damentoilette befinden.
Wir hoffen, dass nicht alle Wartenden zu der Vorstellung von "A beautiful day" wollen. Und siehe da – beim Einlass sieht es so aus, als ob der Großteil der eben noch Popcorn schmatzenden und nach billigem Parfum und Schweiß stinkenden Menschen in das gegenüberliegende Kino trottet. Gut so.

Der große Saal ist dennoch vor allem in der oberen Hälfte dicht besetzt. Wir machen es uns in Reihe 8 so bequem wie möglich. Irgendwo hinter uns riecht es streng nach diesen eigenartigen Kino-Nachos, die von uns spöttisch als "Holzchips" bezeichnet werden und deren penetrantes geschmacksverstärktes Aroma (Knoblauch?) nur mit großen Mengen dieses künstlich schmeckenden Käse Dips mit der Konsistenz von flüssigem Plastik übertüncht zu ertragen ist. Ein unverkennbares Bouquet, das auch meist am nächsten Tag noch irgendwo festzusitzen scheint, wo die Zahnbürste nicht hinkommt.
In den nächsten 89 Minuten nehmen wir abseits des Geschehens auf der Leinwand ein eher verstört wirkendes Publikum wahr.
Der Mann neben mir bekommt bei manchen Szenen einen nervösen Reizhusten, die Jungs in der Reihe hinter uns bestätigen sich wiederholt gegenseitig, dass dies ein "Psycho-Film" ist.
Andere fragen ihren Sitznachbarn, ob er weiß, worum es geht. Ein älteres Paar verlässt im ersten Drittel des Films demonstrativ den Saal. Ratlose Blicke werden ausgetauscht, Köpfe zusammengesteckt und auf den Sitzen hin und her gerutscht. Offenbar besteht bei Vielen schon Diskussionsbedarf während des Films.
Wäre "A beautiful day" nicht so faszinierend und Aufmerksamkeit fordernd, hätte es mir große Freude bereitet, eine eineinhalbstündige Verhaltensstudie über die im Raum anwesenden Menschen zu machen.
Just als der Abspann beginnt und gleichzeitig das Licht angeht, springen fast alle wie von der Tarantel gestochen auf. Der Großteil scheint es überhaupt ziemlich eilig zu haben, aus dem Kino raus zu kommen.
Nach erstaunlich kurzer Zeit sitzen wir bei voller Beleuchtung ganz allein da und fühlen uns wie zwei Störenfriede während eine Kino Angestellte wie eine fleißige Hummel vor, neben und hinter uns von Sitz zu Sitz schwirrt, um Popcorn zu entfernen und Müll einzusammeln.
Der Abspann bietet neben dem treibenden Soundtrack im Stil der 80er noch Einblendungen von Gesprächen. Ein kleines Puzzleteil der Rahmenhandlung, das in dieser Form im Film nicht zu sehen bzw. hören war und für das sich das Sitzen bleiben lohnt. Wie eigentlich für jeden Abspann. Finden wir zumindest.


Der Film


Der Charakter Joe ist ein vom Leben innerlich und äußerlich deutlich gezeichneter Antiheld und doch wirkt er mit seiner omnipräsenten Aura von persönlicher Tragik wie eine personifizierte Steigerungsstufe von altbekannten Klischees. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er der Bezeichnung "Antiheld" überhaupt gerecht wird.
Innere Dämonen verfolgen ihn und treiben ihn gleichzeitig an.
Joe leidet aller Wahrscheinlichkeit nach an einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Intrusionen in Form von Flashbacks, Zwangshandlungen, einer latenten Suizidalität, Stimmungsschwankungen, Alpträumen, dissoziativen Zuständen, paranoiden Zügen, mangelnder Regulationsfähigkeit und unkontrollierten Wutausbrüchen bis hin zu Gewaltexzessen.
Er ist ein innerlich verletztes Kind, das aufgrund des Erleidens von massiver, wiederholter sadistischer Gewalt durch den eigenen Vater nie ein gesundes Selbstwertgefühl, geschweige denn so etwas wie ein Urvertrauen aufbauen konnte.
Er ist ein Erwachsener, der im Krieg nicht nur zivile Opfer, sondern auch den Glauben an die Menschheit begraben musste. Zusammen mit einem großen Spektrum seiner Emotionen. Geblieben ist nur eine unbändige Wut, nicht zuletzt auf sich selbst.
Joes Verhaltensweisen sind aufgrund seiner psychischen Störung für seine Umwelt (und wohl auch einen beachtlichen Teil des Publikums) nicht oder nur schwer nachvollziehbar.

Joaquin Phoenix gelingt es, all das authentisch zu verkörpern und absolut eindringlich darzustellen. Er dominiert die Leinwand.
Sein wuchtiger Körper und diese stahlblauen Augen mit dem verlorenen Blick, die aus dem von einem weißgrauen Bart bewucherten Gesicht hervorstechen, erzeugen ambivalente Gefühle.
Man kann und will und darf ihn nicht (ganz) bewundern. Aber genauso wenig bemitleiden.
Und trotz alldem geht eine befremdliche Faszination von ihm aus, wenn er mit seinem Hammer mit dem Gütesiegel "Made in America" loszieht und mit roher Gewalt Pädophile, deren Helfershelfer und alle beseitigt, die ihm (vermeintlich) in die Quere kommen.
Die schicksalhafte Begegnung mit der minderjährigen Tochter des Senators (gespielt von dem russisch-amerikanischen Model Ekaterina Samsonov), die selbst schwer traumatisiert ist, gibt seinem tristen Dasein eine andere, neue Richtung. Er übernimmt Verantwortung für das Mädchen. Zumindest im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten.
Doch die Männer, die Nina unbedingt als Sexualobjekt behalten wollen, sind mächtig, skrupellos und voller zerstörerischer Energie. Schnell wird klar, dass es ein harter Kampf werden wird. Für alle Beteiligten.


Joe tut, was er tun muss


Lynne Ramsay bringt es zustande, die etwas klischeehaft anmutende Geschichte durch ungewöhnliche Schnitte, geschickt arrangierte Perspektivenwechsel und gezielte Ausblendungen mancher Gewaltspitzen in einer Form zu präsentieren, die sich oft einer eindeutigen inhaltlichen Interpretation entzieht.
Joes Vergangenheit wird in kurzen fragmentierten Bildern (Flashbacks) angedeutet, was Film-KritikerInnen augenscheinlich zu völlig unterschiedlichen Deutungen mancher Begebenheiten motiviert.
In manche Sequenzen werden für die Handlung potentiell erklärende Teile von der Kamera bewusst abgeschnitten und befinden sich somit außerhalb des Bildrahmens. Dadurch zwingt die Regisseurin das Publikum, unterstützt von einer entsprechenden Soundkulisse, zum Vervollständigen der Szene vor dem inneren Auge. Ähnlich wie bei Hitchcocks "Psycho" (von dem es im Film eine schöne Hommage gibt) oder "The Texas Chainsaw Massacre" gibt es bewusste Auslassungen.
Die Regisseurin spielt mit Erwartungshaltungen und fordert unser Vorstellungsvermögen heraus.
Das, was Joe widerfahren ist und dass er nämlich zu viel gesehen hat, bleibt uns im Kinosessel erspart.
Trostlosigkeit ist ein besonders dominantes Thema in "A beautiful day".
Dies gilt nicht nur für die Aufnahmen von Innenräumen oder der Stadt sondern auch für die verletzte Psyche von Joe und Nina.

"A beautiful day" ist ein fordernder Film. Sowohl was Aufmerksamkeit als auch Vorstellungskraft betrifft.
Die Soundkulisse, die manchmal mithilfe von Lautstärke oder Penetranz Joes eigene Reizüberflutung andeutet, wirkt ebenso dominant und unangepasst wie der Soundtrack (der zum Teil aus der Feder von Radiohead-Mitglieds Jonny Greenwood stammt).
Es ist kein Film, dem es nur um billige Schocks und blutige Effekte geht.
Dafür hält er gerade dort gnadenlos drauf, wo wir nicht gerne hinsehen – auf die Abgründe der menschlichen Psyche, die Perversionen, die nach wie vor riesigen gesellschaftlichen Tabus. Die Kamera streift quasi die dunkelsten und verborgensten Ecken der menschlichen Zivilisation.

Besser als Lynne Ramsay selbst kann man es nicht auf den Punkt bringen:
"(…) Aber mir ist es auch wichtig, dass meine Filme weiter im Kino zu sehen sind, ein Computermonitor würde "A Beautiful Day" einfach nicht gerecht werden.
Er ist ein Trip, auf den man sich einlassen muss."
(Zitat aus einem Interview mit der Regisseurin, erschienen auf "Tagesspiegel Online" in der Fassung vom 25.04.2018)




Foto: Blu Ray von Constantin Film